Auf der MEDIA CONVENTION Berlin erklärt der Tübinger Professor Bernhard Pörksen an sechs Beispielen, was virales Storytelling ausmacht:
1. Archetypen: Die 106-Jährige im Weißen Haus
Im Februar besuchte eine 106-jährige Frau den US-Präsidenten Barack Obama im Weißen Haus. Für Obama war das eine gelungene PR-Aktion, für die Seniorin Virginia McLaurin die Erfüllung eines Traums. "Ein schwarzer Präsident und eine schwarze Ehefrau!", freute sich die 106-jährige und legte mit Michelle Obama ein paar Tanzschritte hin. Dann sagt sie: "I'm here to celebrate black history.“
Für Bernhard Pörksen ist das ein Paradebeispiel für eine archetypische Geschichte – und zugleich die erste Zutat für Storytelling im Netz. Das Video handelt nämlich nicht nur von einer einzelnen Frau, sondern es erzählt eine größere Geschichte. Wenn McLaurin im Weißen Haus tanzt, dann scheint für einen Moment der Jahrhunderte alte Kampf gegen Rassismus und soziale Unterdrückung gewonnen.
2. Symbolkraft: Die Blaue Kugel im All
Bevor die Nasa in den späten Sechzigern die ersten Fotos der Erde aus dem Weltraum veröffentlichte, verkaufte der Umweltaktivist Stewart Brand Buttons. Auf diesen stand "Warum haben wir noch kein Bild der gesamten Erde gesehen?" ("Why haven’t we seen a photograph of the Whole Earth yet?"). Das Bild der Erde als blaue Kugel wurde zum Symbol der Umweltbewegung.
Für Bernhard Pörksen zeigt dieser Fall, dass oft schon ein starkes Symbol ausreicht, um eine gute Geschichte zu tragen. Ein virales Symbol aus dem Zeitalter der sozialen Netzwerke ist zum Beispiel der grau-schwarze Slogan "Je suis Charlie".
3. Leerstellen: Babyschuhe zu verkaufen
Dem legendären US-amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway wird nachgesagt, er habe die kürzeste Geschichte der Welt geschrieben. Damit habe Hemingway beweisen wollen, dass eine berührende Geschichte nicht mehr als sechs Wörter brauche. Ob die Geschichte wirklich von ihm stammt, ist umstritten. Weitererzählt wurde sie trotzdem. Sie lautet: "For sale: Baby Shoes. Never worn".
"Gute Geschichten lassen Leerstellen für die Fantasie", erklärt Bernhard Pörksen. Genau das würde der Babyschuh-Geschichte beispielhaft gelingen. Die Geschichte lasse dem LeserIn Platz für die eigene Fantasie: Ist das Kind gestorben oder kam es nie zur Welt? Wer war seine Mutter? Solche Leerstellen sind Pörksen zufolge die dritte Eigenschaft für virales Storytelling.
4. Dominanz: Ist das Kleid blau oder weiß?
Anfang 2015 teilten Millionen von Nutzern das Foto eines gestreiften Kleides. Einige sahen darin die Farben Blau und Schwarz, andere hielten das Kleid eindeutig für weiß-golden. Bald kursierten Dutzende wissenschaftliche und pseudo-wissenschaftliche Erklärungen für das Phänomen im Netz.
Die Dominanz einiger weniger Geschichten sei ein wichtiges Merkmal für virales Storytelling. Nachrichtenportale und Websites wie Buzzfeed würden sich stets gegenseitig beobachten - und erfolgreiche Geschichten der anderen sofort verbreiten.
5. Kommerzialisierung: Du wirst nicht glauben, was hier steht
So klingt eine typische Überschrift der Clickbaiting-Website heftig.co: "Diese Frau schließt ihr Handy an einen Blumentopf an. Doch was 10 Stunden später geschieht, ist ein Geniestreich." Der Cliffhanger verspricht eine Sensation, die Geschichte löst das in den meisten Fällen nicht ein.
"Clickbaiting-Seiten versuchen, ihre Geschichten in aggressiver Weise zu verrätseln", erklärt Bernhard Pörksen. "Nicht etwa, um die Leser zu inspirieren, sondern um die eigene Reichweite zu pushen." Das sei leider typisch für virales Storytelling im Netz. Um Aufmerksamkeit zu gewinnen und Geld zu verdienen, würden die Geschichten an Originalität verlieren.
6. Hysterie: Das Mädchen, das nie vergewaltigt wurde
Anfang 2016 berichtete das russische Staatsfernsehen von einer 13-Jährigen, die angeblich in Berlin von Migranten vergewaltigt worden sei. Die Geschichte wurde in den sozialen Netzwerken verbreitet und ausgeschmückt – und bot Anlass für Hass und Beleidigungen gegen Ausländern. Tage später stellte sich heraus, dass die beschriebene Tat niemals passiert war.
"Storytelling im Netz hat das Problem der Hysterisierung", erklärt Bernhard Pörksen. Im digitalen Zeitalter würden Nutzer die Geschichten blitzschnell in ihren Milieus und Bubbles teilen – und für ihre eigenen Zwecke umdeuten. Trotz Hysterie und Kommerzialisierung, als Pessimist möchte sich Pörksen nicht bezeichnen. "Es gibt auch viele wunderbare Geschichten im Netz", betont der Professor. Und ruft jeden Einzelnen dazu auf, Geschichten im Netz mit mehr Sorgfalt zu schreiben, zu teilen und zu kommentieren.
Foto: MEDIA CONVENTION Berlin/Uwe Völkner