#Guest Contribution: Ein Sekundenbruchteil Solidarität

20635914503_14bda97e27_o.jpg

Alan Kurdi Made in #waterlogue

Radikalisiert das Internet den Flüchtlingsdiskurs in Europa? Wie wird die Meinung über Migranten in sozialen Medien gesteuert? Sind Smartphones Katalysator für die Flucht? Wie sich die Flüchtlingskrise im Netz spiegelt beleuchtet eine Serie in Kooperation mit unserem Medienpartner euro|topics, die wir aus dem letzten Jahr fortsetzen. In den kommenden Monaten bis zur #rpTEN publiziert euro|topics alle zwei Wochen eine Debattenschau mit Stimmen aus Print und Online.

Wohl kein anderes Bild der Flüchtlingskrise hat sich so ins kollektive Gedächtnis eingebrannt wie jenes des ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi. Hat das Foto, das tausendfach auf Facebook und Twitter geteilt wurde, auch politisch etwas bewirkt?

Es war Mittwoch der 2. September 2015, als in der Timeline unzähliger Social-Media-Nutzer ein Bild auftauchte, das viele von ihnen so schnell nicht wieder vergessen konnten. "Es hat sich in meine Netzhaut eingebrannt", "Wenn dieses Bild die Welt nicht verändert, haben wir alle versagt", "Ich musste weinen", waren einige der Kommentare, die Menschen aus aller Welt twitterten, erschüttert und bewegt, von dem, was sie sahen: Ein lebloses Kind, am Strand, ertrunken wie so viele vor ihm, ein Opfer vom Krieg in seinem Heimatland Syrien, ein Opfer der rigiden Abschottungspolitik der EU. Zum ersten Mal wurden die Auswirkungen des Flüchtlingsdramas, das sich in diesem Jahr extrem zuspitzte, für so viele Menschen mit aller Wucht sichtbar. Unter dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik ("die fortgespülte Menschlichkeit") twitterten sich tausende ihren Schock, ihre Trauer und ihre Wut von der Seele.

Schrei des toten Jungen

Der zweijährige Alan Kurdi ertrank, als das Schlepperboot, in dem er saß, auf dem Weg vom türkischen Bodrum zur fünf Kilometer entfernten griechische Insel Kos kenterte. Mit ihm starben seine Mutter, sein fünf Jahre alter Bruder und neun weitere Menschen. Die Aufnahme von Alan, dessen Körper nach dem Bootsunglück an den Strand gespült worden war, stammte von der türkischen Fotografin Nilüfer Demir. Sie wollte den "Schrei des toten Jungen" durch das Bild hörbar machen, sagte Demir in einem Interview. Es war ihr gelungen. Kein anderes Foto aus dem an Tragödien reichen Sommer 2015 rief weltweit ein ähnliches Echo hervor, wie jenes des kleinen Alan. Und die Hoffnung vieler Kommentatoren in Europa war groß, dass das Bild, das so wehtut, auch etwas in den Herzen und im Handeln der verantwortlichen Politiker bewegen würde.

"Das Objektiv des Fotografen ist das Auge des menschlichen Gewissens. Deshalb sollten solche Bilder in Zeitungen erscheinen. Sie sollten auf Anzeigetafeln zu sehen sein. Sie sind unerträglich für jeden, der eine Seele hat", schreibt etwa der kroatische Autor Miljenko Jergović in der Tageszeitung Jutarnji list und fährt fort: "Nur die Unerträglichkeit dieser Fotos, und aller zukünftigen schlimmeren und schmerzhafteren Fotos könnten die Welt zu wirklicher Solidarität bewegen." Und die türkische Zeitung Hürriyet räumt dem Bild gar die Macht ein, den Syrienkrieg zu beenden: "Wenn es dieses Bild nicht gegeben hätte, wer hätte das vom Krieg geschaffene Elend sonst erklären können? Erinnern Sie sich: Es war auch ein Foto, das großen Einfluss auf das Ende des Vietnamkrieges hatte."

Einen Augenblick lang schien es, als hätte das Bild von Alan wirklich die Macht, Politik zu verändern. So erhöhte der britische Premier David Cameron unmittelbar nach dem Unglück die Zahl der Flüchtlinge, die Großbritannien aufzunehmen bereit ist, von rund 200 auf 20.000. Er verwies auf das Foto, das ihn "tief bewegt" habe. Doch schon kurze Zeit darauf lehnten die EU-Innenminister erneut eine von der EU-Kommission vorgeschlagene Quote zur Verteilung von Flüchtlingen ab. So schreibt denn auch die spanische Zeitung El Periódico de Catalunya enttäuscht: "Keine zwei Wochen sind vergangen, seit das Bild des syrischen Jungen Alan das Gewissen der Europäer wachrüttelte und die harte Haltung einiger Regierungen in Bezug auf die Flüchtlingsaufnahme aufweichte. Und schon ist alles wieder wie vorher."

Im kollektiven Gedächtnis der Welt

Hat das Bild des kleinen Alan zu mehr Solidarität mit Flüchtenden geführt? Wenn ja, dann nur für einen Sekundenbruchteil in der Geschichte. Überholt wurde es von anderen Ereignissen: vom Terror in Paris und den Silvesterübergriffen in Köln – Ereignisse, für die in der europäischen Öffentlichkeit schnell Schuldige ausgemacht und in Sippenhaft genommen wurden: Flüchtlinge. Doch ist das Bild auch zu einem Symbol geworden, das von Grafikern, Hobbyzeichnern und Künstlern aus aller Welt aufgegriffen und paraphrasiert wurde: sei es für die umstrittene Karikatur von Charlie Hebdo oder sei es durch den chinesischen Künstler Ai Weiei, der sich in der Pose des toten Alan am Strand fotografieren ließ. Und auch auf Twitter finden sich immer wieder Zeichnungen, die vom traurigen Anblick des toten Kindes inspiriert sind. Und so wird dieses Bild wohl im kollektiven Gedächtnis der Welt verhaftet bleiben.

Bildernachweis: robertsharp (CC BY 2.0)

Title

euro|topics

Für die internationale Online-Presseschau euro|topics verfolgen 26 Korrespondenten die wichtigsten Debatten in Europa und durchforsten dafür meinungsbildende Medien. Alle ausgewählten Stimmen stehen auf Deutsch, Englisch und Französisch zur Verfügung. Damit leistet das Angebot einen wichtigen Beitrag für eine europäische Öffentlichkeit. eurotopics verfügt über ein wachsendes Archiv aus mehr als 35.000 Meinungsbeiträgen. Eine rund 500 Zeitungen, Onlineportale und Blogs umfassende Datenbank erschließt Europas Medienlandschaft. Das Journalistennetzwerk n-ost erstellt die tägliche Presseschau im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung.

Mehr unter www.eurotopics.net und @eurotopics.

Tags: