"Immersion" war eines der Buzzwords auf der zehnten re:publica. Unter Immersion verstehen wir unterzutauchen und einzutauchen und umgeben sein oder eins sein mit einer Situation. Virtual Reality und Augmented Reality sind die Fahnenträger immersiver Technologien, aber auch in Kunst und Kultur macht man sich seit längerem Gedanken über immersive Erlebnisse, vor allem in Hinblick auf die Produktionsverhältnisse.
Der zweite Tag im labore:tory, dem Experimentierlabor der re:publica für die Schnittmenge aus Kulturproduktion und Technologie, verschrieb sich unter dem Titel "Immersive Arts" der Suche nach Möglichkeiten, Arbeitsformen und Interpretationen mit neuen Technologien.
Andreas Gebhard begrüßte das Publikum gemeinsam mit Julian Kamphausen (Performing Arts Programm Berlin). Letzterer führte mit Tina Pfurr (Ballhaus Ost) durch den Themen-Tag – eine Geste, die beispielhaft für das große Interesse an der Verknüpfung von digitalen Medien und Bühne stand.
Im ersten Talk "Start-up! Wie KünstlerInnen und GründerInnen zusammenarbeiten können" diskutierten Thea Dymke (Bundesverband Deutscher Galerien) und Jeanne Charlotte Vogt (NODE Forum for Digital Arts) die Notwendigkeit der Kooperation von digitaler Kreativbranche und KünstlerInnen. Aber wie gehen beispielsweise Ergebnisorientierung und ergebnisoffenes Arbeiten zusammen? Diese scheinbar gegensätzlichen Pole haben viel gemeinsam beziehungsweise ergänzen sich fruchtbar.
Der Künstler und Aktivist Artúr von Balen von Tools for Action ging immersiver Kunst von der praktischen und partizipativen Seite an. Tools for Action produzieren lebensgroße aufblasbare Pflastersteine, um sie für den politischen Protest einzusetzen. Laut Artúr aktiviert Kunst die Menschen viel schneller und inklusiver als es ein von politischen Gruppen geplanter Protest könnte. Bei diversen Klimakonferenzen hatte die Gruppe bereits das Potenzial von aufblasbaren Objekten erkundet. Ihre "Inflatables" schafften es, binnen Sekunden eine Masse in Bewegung zu setzen. Tools for Action luden am Nachmittag in der re:lax-Area zu einem Aktionstraining mit ihren silbernen "Inflatables" ein, die zum Einsatz für eine Antifa-Demo im Juni in Dortmund geplant sind.
In ihrem Talk warnte die Künstlerin Eve Massacre in puncto Überkreuzung von Kunst und VR-Technologien vor zu viel Euphorie, denn sie wittere, dass verkrustete Machstrukturen trotz Nutzung neuer Technologien weiter bestehen könnten. Die Technologien, die Geräte und das Erlernen ihrer Nutzung seien nur einem exklusiven Kreis vorbehalten. Der Skepsis von Eve setzte Sara Vogl von den VRNerds ihren Optimismus und ihre Neugier als Künstlerin entgegen. In ihrem Talk "New dimensions and perspectives of Art in VR" zeigte Sara eigene sowie Beispiele von weiteren Künstlerlnnen, die Welten kreieren, in denen wir einmal leben könnten. Die Technologie in Kooperation mit Kunst zeige ihr philosophisches Potential als Basis für neue Lebensentwürfe. Und selbst der Maler Neo Rauch sei begeistert von einer VR-Entsprechung einer seiner Skulpturen, die mittels 3D-Scan nun in der virtuellen Welt ‚befreit‘ dastehe.
Nicht rein um VR, aber um die Befreiung und Emanzipation durch Technologien ging es Matthew Vincent und Chance Coughenour. Sie zeigten mit ihrem Projekt "Rekrei", wie Archäologie, Kunstgeschichte, politischer Aktivismus und Technik in großes ziviles Engagement münden kann. Sie sagen: "Die Zerstörung von kulturellem Erbe durch Menschen oder auf natürliche Weise ist nicht neu. Aber die Wege, wie wir helfen können, sind es." Für ihr Projekt sammelten sie private Aufnahmen von zerstörten Kultur-Artefakten, die durch ISIS gezielt oder Kämpfe mit ISIS zerstört worden waren. Anhand der Bilder erstellen sie 3D-Modelle, die als Matrizen für 3D-Ausdrucke dienen. Chance und Matthew berühren mit ihrer Arbeit empfindliche Fragen, weshalb etwa Kunst und Kultur für die Identität wichtig sind oder wie durch neue technologische Voraussetzungen Teilhabe, Aktivismus und Ermächtigung ermöglicht werden können.
"Life Behind The Electronic Superhighway – Wie Kunst das Internet verändert" lautete Marcus Böschs Talk. Er startete mit dem Aufruf, das Publikum möge alle FreundInnen via Twitter zu seinem Talk zu holen, denn "was hier gleich passiert, wird ein bisschen so sein wie das erste Konzert der Sex Pistols." Dann zeigte er einen fantastischen und kunterbunten Rollercoaster-Trip durch die letzten zehn Jahre voller beindruckender Digitalkunstprojekte. Diese Werke treffen in den Institutionen bisweilen auf Unverständnis, weil sie Ästhetik und digitale Kulturpraxis miteinander kombinieren und nur schwer in gängige Schemata passen. Dennoch, so das Credo von Bösch, "der Raum wird wichtig bleiben, ob physisch oder eben virtuell." Eine der vorgestellten KünstlerInnen war Addie Wagenknecht, die zusammen mit Jillian York auf dem Themen-Tag in ihrem Talk über "Nudes and N00dz" sprach. Wagenknecht und York gingen der Frage "What is art and what is porn?" nach und zeigten Beispiele von klassischen Kunstwerken, Aktfotografien und Internetkunst, die von Social-Media-Netzwerken anhand von Algorithmen zensiert wurden.
Das Panel "Immerse! new Narratives, new Technologies" richtete den Blick auf den Einfluss von neuen Technologien auf die Erzählformate. Drei unterschiedliche Positionen kamen dabei zusammen: Christopher De La Garza ist Teil eines Kollektives, das das immersive Comic "Hemispheres" erschaffen hat, Dominik Stockhausens VR-Kurzfilm SONAR wurde erst auf dem Sundance Festival gefeiert und Johan Knattrup Jensen gehört zur dänischen Kunstgruppe MAKROPOL, im labore:tory vertreten mit dem VR-Projekt "The Doghouse". Der Begriff der Intimität kam in der Diskussion dabei immer wieder auf. Ist der Wunsch nach Nähe eigentlich das, was hinter dem Buzz von Virtual Reality und immersiven Kunstformen steht?
Eine Frage, die auch Björn Lengers angeht. Sein Credo lautete: "VR braucht Theater", aber geht das auch umgekehrt? Lengers hat gemeinsam mit seinen Partnern das Projekt "RäuVR" entwickelt. Der Klassiker von Friedrich Schiller wurde mit der These adaptiert, dass VR nur realistisch wirken kann, wenn sie auch interaktiv ist. Schließlich benötigen die AkteurInnen auf der Bühne das Feedback der ZuschauerInnen, was bei Produktionen für herkömmlichen VR-Brillen bisher nicht realisierbar ist. Lengers berichtete von der spannenden Produktion des Theaterprojekts, bei dem sie einerseits ihre Thesen verwirklichen wollen und sich andererseits mit den Begrenzungen der Technik auseinandersetzen müssen.
Die israelische Künstlerin Maya Magnat begann ihren Vortrag "Digital Performance – Interfacing Intimacy" mit lautem Nachdenken über "digitale Intimität" und Sherry Turkles Buch "Alone Together". Sie stieß damit in eine Richtung, die auch schon Talks vor ihr angedeutet hatten, wenn von Nähe durch Technologie die Rede war. Der Wunsch nach Intimität ginge für viele sogar darüber hinaus, so Magnat, wenn sie ein intimes Verhältnis zu ihren digitalen Geräten eingingen. Sie macht die paradoxe Beziehung zwischen Digitalisierung und Intimität zum Thema ihrer künstlerischen Arbeit und erprobt das Konzept von Nähe in ihren digitalen Performance "Do you want to put your hand into my hard drive?"
Um den Kreis zu schließen, beschäftigte sich die letzte Session von "Immersive Arts" mit der Inkorporation von partizipativer Technologie, Augmented Reality und mobilen Apps in der Kunstvermittlung. Kultur- und Kunstinstitutionen müssten auf neue Technologien setzen, um spannende Inhalte für BesucherInnen zu bieten und um aktuelle Kunst zu präsentieren, so das Fazit. Alexander Govoni vom virtuellen Museum Refrakt, Carolin Clausitzer vom ZKM (mit der Ausstellungsplattform AOYS: ArtOnYourScreen) und Clarissa Hoehener (bux App – Literatur hautnah) stellten ihre Projekte vor und diskutierten über deren Aneignung von Raum. Refrakt und bux müssen vor Ort angewendet werden, wohingegen AOYS unabhängig von Öffnungszeiten und Eintrittsgeldern angewendet werden kann. Die Projekte zeigen, dass BesucherInnen zu UserInnen geworden sind und dementsprechend gewandelte Ansprüche und Vorlieben haben. Carolin resümierte, die große Chance läge nun darin, eigene und unabhängige Plattformen zu bauen, die die eigenen Wünschen widerspiegeln.
Der "Immersive Arts"-Tag an Tag 2 der re:publica war voller spannender SpeakerInnen, die in ihren Feldern der Kunstproduktion beeindruckende Projekte präsentierten. Wie am Musicday an Tag 1 beendete die Fishbowl den Konferenztag. Auf der Bühne blickten die SpeakerInnen Thea Dymke, Carla Streckawll (Refrakt), Marcus Bösch und Marcel Karnapke (RäuVR) auf die Themen des Tages zurück. Sie waren sich einig, dass zum einen niemand genau weiß, wohin es kunsttechnologisch gehen wird, aber jede und jeder gespannt ist, wohin es gehen kann!
Zum anderen waren sie überzeugt: Mit diesem Tag voller unterschiedlicher Positionen, der in Kombination mit der VR-Ausstellung in den Geschossen darüber gestaltet wurde, war das richtige Format gefunden, um Schritte in den Künsten und in der Technologieentwicklung nach vorne zu gehen.
"Nähe" und "Intimität", das "zusammen Erleben" waren Schlagworte, die verschieden interpretiert und mal skeptisch, mal neugierig mit VR in Verbindung gebracht wurden. Wie schon am Musicday schienen Augmented und Mixed Reality die interessanten Zwischenmedien darzustellen, in denen zukünftig gearbeitet wird. Am Ende dieses Tages waren viele Antworten gefunden, es stellten sich aber auch eine Unmenge neuer Fragen. Sie stehen für neue Anknüpfungspunkte, an denen sich Technologie und Kunst treffen können. "Immersive Arts" auf der re:publica TEN war ein Tag, der wegweisende Synergien hervorbrachte. Wir können gespannt sein, wie sich diese weiterentwickeln.
Bildnachweis: re:publica/Jan Michalko (CC BY 2.0)